34, Männlich, Studiert. Und Analphabet

 

Von einem der auszog, um eine neue Sprache samt neuem Alphabet zu lernen und sich in manchen Momenten fragt, warum er den einfachen Weg häufig nicht einmal mehr sieht, sondern auf den schweren zustürmt. Mit Anlauf, Ansage und lautem Gejohle.

Po-ch. Falsch. 

Pa-scha-ni. Falsch. 

Meine Finger gleiten zurück an den Anfang des Wortes und stottere mich erneut an den fremdartigen Buchstaben entlang. 

Pa-scha-lu-sta. Wieder falsch, wenn auch denkbar knapp. Das u wird nur gehaucht. 

Pa-scha-l'sta. Mein Gegenüber nickt. Ich atme erleichtert auf. Endlich. 

Я не понимаю
Я не понимаю

Seit einer Stunde beschäftige ich mich mit dem Wortschatz eines Dreijährigen. Wie soeben bei dem russischen Wort für Bitte (geschrieben пожалуйста), kämpfe ich mich Silbe für Silbe durch Buchstabenkombinationen, die ich nicht verstehe und ob des kyrillischen Alphabets kaum lesen kann. Natürlich bezahle ich für dieses Vergnügen. Naja, zumindest schmeckt der Kaffee. Und mit meiner Lehrerin wirkt wenigstens eine Person im Raum so, als ob sie wüsste, was sie tut.

 

Leicht verzweifelt sitze ich am Kopfende eines klapprigen Schreibtisches in einem kleinen Arbeitszimmer einer Gemeindebauwohnung im 15. Wiener Gemeindebezirk. Die Einrichtung ist einfach, fast schon spartanisch und wohl seit Jahrzehnten unverändert. Der Eingangsbereich besteht aus einer schmucklosen weißen Garderobe und der dazu passenden Kommode. Hinter mir steht eine simple braune Couch ohne Kissen. Wahrscheinlich bin ich in der einzigen Wohnung Wiens ohne IKEA Möbel. Kein Wunder, kam das Einrichtungshaus auch erst 1977 nach Österreich.

 

Ich verstehe nicht

Nur in der Vitrine zu meiner Linken schlummert ein Hauch Extravaganz. Hier wartet das antike Porzellangeschirr auf besondere Momente: Teller, Tassen und Schüsseln wie man sie auf Flohmärkten in aller Welt erstehen kann, wunderschön mit unzähligen Ausbuchungen und Verzierungen. Solche, über die man beim Nachdenken langsam mit dem Finger fährt, um die Unebenheiten des Materials zu spüren.

 

Eine dazu passende Kaffeetasse beschäftigt meinen Daumen, während ich gebückt über dem Lehrbuch sitze und die nächsten Worte in Angriff nehme. Ja Ni Panimaju (Я не понимаю). Ich verstehe nicht. Irgendwie passend. Aber immerhin schaffe ich den Satz ohne Stottern, was ein kurzes Lächeln auf meine Lippen zaubert.

 

Auch meine Lehrerin wirkt zufrieden. Der darauffolgende russische Wortschwall lässt mich jedoch ratlos zurück. War meine Aussprache doch falsch? Soll ich es nochmal versuchen? Oder rekrutiert sie mich gerade für den Geheimdienst? Sie blickt kurz auf, erkennt meine Verwirrung und beginnt zu lachen. Nicht gerade hilfreich.

Buchstaben, die aussehen wie eine Mischung aus Griechisch und dem Elektro-Installationsplan eines Einfamilienhauses
Buchstaben, die aussehen wie eine Mischung aus Griechisch und dem Elektro-Installationsplan eines Einfamilienhauses

Kommt Zeit kommt Weltreise.

Die russische Sprache reizt mich seit langem. Vor gut zehn Jahren besuchte ich voller Euphorie einen Sprachkurs an der Universität Wien. Ich bewunderte das teils fremdartige Alphabet und war begeistert von der einzigartigen Melodie und Emotionalität dieser Sprache. So wie das stumme "u" in Paschalsta (пожалуйста ). Was andere Leute entmutigen könnte ist für mich ein fast schon erotisches Element einer Sprache, die wir hierzulande eher mit testosteronverseuchten Wodkatrinkern assoziieren.

 

Der erste Ausflug in die russische Sprache endete allerdings nach wenigen Wochen schlagartig. Ein Zeitungsprojekt beschränkte meine Freizeit auf unregelmäßige Zigarettenpausen. Seitdem habe ich immer wieder wehmütig an diese Zeit zurückgedacht und mir gewünscht, ich könnte daran anknüpfen.

 

Im Zuge unserer Reise wage ich nun endlich einen neuen Anlauf. Und was damals meiner Lunge schadete, ist jetzt unerwartet hilfreich. Vor allem, da ich einige Worte und Buchstaben in meinem Langzeitgedächtnis wiederfinde. 

 

Dennoch komme ich mir vor wie ein Analphabet.

 

Das liegt zu einem guten Teil an der kyrillischen Schrift. Denn hier ist jeder Buchstabe potenzielles Neuland - auch solche, die ich verwende, seit ich sprechen kann. So wird ein P zu einem R, ein H wird zu einem N und umgedrehtes N spricht man wie ein I. Und als ob das nicht reicht, sind da noch die anderen Buchstaben. Jene, die ich nur aus Agentenfilmen kenne und die aussehen wie eine Mischung aus Griechisch und dem Elektro-Installationsplan eines Einfamilienhauses.

Dunkle Wolken ziehen auf

Zusammen bringen Sie mich an den Rand der Verzweiflung. Genauso, wie es draußen langsam dunkel wird, ziehen auch in meinem Kopf erste Wolken auf. Meine Konzentration lässt nach und binnen Sekunden ist auch meine Aufnahmefähigkeit auf dem Niveau des bereits erwähnten Dreijährigen. Genug. Meine Lehrerin hat ein Einsehen und schickt mich nach Hause. Natürlich nicht ohne Hausaufgaben. Aber ich muss erstmal an die frische Luft.

 

Am nächsten Tag folgt direkt die zweite Einheit. Langsam und gemütlich ist vier Wochen vor Abreise nicht drinnen. Nach einer entspannten Nacht bin ich allerdings ausgeruht und konnte meine schwer angeschlagene Motivation wiederherstellen. Also sitze ich wieder am selben Schreibtisch und trinke aus jener Tasse, die sich in meiner Hand schon merkwürdig vertraut anfühlt.

 

Wie am Vortag beschäftigen wir uns auch heute vorrangig damit, lesen zu lernen. Ich bemerke erste Fortschritte, kann manche Buchstaben bereits ohne Hilfe identifizieren und stolpere nur mehr über jede zweite Silbe. Meine Lehrerin, die ich in meinem Kopf ob ihrer jahrzehntelangen Erfahrung nur liebevoll Babuschka (Ба́бушка) nenne, hilft mir dabei mit einer Engelsgeduld, die man sonst nur gegenüber Enkelkindern aufbringt, die das 10. Mal in Folge vom Fahrrad gefallen sind.  

 

Und ebenso wie bei meinen ersten Fahrversuchen vor bald 30 Jahren durch die Ottakringer Seitenstraßen fühle ich mich auch jetzt. Ich will. Und ich werde. Irgendwie. Auch wenn es weh tut. Anstatt den einfachen Weg zu gehen, und die wichtigsten Straßennamen auf kyrillisch zu notieren, um zu wissen, ob wir unterwegs links oder rechts abbiegen sollen, sitze ich auf diesem schwarzen Lederstuhl und mache weiter. Auch wenn es in meinem Kopf langsam wieder zuzieht.

 

Heizende Kühlschränke

Genau diesen Moment wählt Ба́бушка, um zu lüften. So wie alle zwanzig Minuten reißt sie das weiße Kunststofffenster weit auf. Die kalte Luft lässt meinen inneren Nebel zurückschrecken und ich fühle mich erfrischt. Leider hält dieser Zustand nur etwa 30 Sekunden an. Dann beginne ich langsam zu zittern. Meine Lehrerin hat Erbarmen und schließt die Fenster wieder. Es kann eben nicht jeder aus einer Gegend kommen, in der man Kühlschränke zum Heizen verwendet.

 

Die Einheit ist zu Ende und wieder freue ich mich auf den Heimweg, lasse mir extra Zeit, trinke unterwegs einen Tee und lasse die letzten Stunden Revue passieren. Es geht voran. Langsam. Sehr langsam. Aber immerhin. Ich bin jedenfalls optimistisch, dass ich bis zum Sommer soweit bin, dass ich einfache Konversationen führen kann. 

 

Außerdem ist Sprache bekanntermaßen der Schlüssel zur lokale Bevölkerung, der Schlüssel zu ihrer Kultur, zu ihrem Leben. Und zumindest auf meinem geplanten Kurzausflug mit der Transsibirischen Eisenbahn auch der Schlüssel zu ihrem Wodka.

 

Prost.

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Kommentare: 1
  • #1

    Katschi (Freitag, 07 Dezember 2018 10:42)

    Hallo ihr vielen!

    Hab euch vom Weltreiseforum hierher verfolgt und eure Artikel mit Begeisterung gelesen. Und jetzt habe ich eine Frage: Bin ich zu doof, oder bin ich zu doof? Habt ihr jetzt echt nur von Dezember 2017 bis Jänner 2018 gebloggt oder finde ich die restlichen Posts nicht? Wär schade, denn eure Reise hat mich im WRF super interessiert und ich wär euch gern gefolgt, auch wenn ich erst so spät das erste Mal reinschaue, weil ich mit dem Buch über unsere eigene Weltreise beschäftigt war...

    Liebe Grüße von einer Neugierigen,
    Katschi
    www.hiesis-on-tour.at